Pflegebedürftigkeit: ein soziales Lebensrisiko?

Europas Gesellschaften altern zunehmend und damit steigt die Anzahl jener Personen, die Selbstfürsorgedefizite entwickeln und Pflegebedarf haben. Was ist eigentlich Pflege? Wie wird Pflegebedarf definiert? Was bedeutet es, in Österreich pflegebedürftig zu sein und wer ist wann in der Verantwortung? Gundula Göbel skizziert in ihrem Beitrag die Problematik rund um Pflegebedürftigkeit und Betreuungsnotwendigkeiten.

Im vergangenen Mai jährte sich der Geburtstag von Florence Nightingale zum 200. Mal. Aus diesem Anlass hatte das Executive Board der WHO  2020 zum „Weltjahr der Pflege“ ausgerufen. Ziel dieser Maßnahme ist unter anderem, die Pflege und die Leistungen der Pflegenden sichtbar zu machen.

ATLs: Grundlage der Pflegeplanung  

Was genau verstehen wir unter Pflege? Eine mögliche Antwort wäre: Pflege ist eine personenbezogene Dienstleistung, die jenen Menschen zuteil wird, die –  zeitlich begrenzt oder dauerhaft – Selbstfürsorgedefizite haben. Das bedeutet, dass sie die Aktivitäten des täglichen Lebens (ATLs) nicht ohne die Unterstützung einer anderen Person bewältigen können. Die britische Pflegewissenschafterin Nancy Roper hat in den 1970er-Jahren ihr „Pflegemodell der Aktivitäten des täglichen Lebens“ formuliert. Sie benennt darin Tätigkeiten, die jeder Mensch jeden Tag vollzieht.

Diese ATLs lauten:

  • sich bewegen
  • sich waschen und kleiden
  • für Sicherheit sorgen
  • Temperatur regulieren
  • ausscheiden
  • sich Nahrung und Flüssigkeit zuführen
  • Sinn finden im Werden, Sein, Vergehen
  • Zeit und Raum gestalten 
  • sich als Mann und Frau fühlen und verhalten (heute wäre diese ATL um „divers“ bereichert) 
  • ruhen und schlafen
  • atmen
  • eine gewünschte Position einnehmen

Noch heute ist das Konzept der Aktivitäten des täglichen Leben – wenn auch in modifizierter Form – die theoretische Grundlage nahezu jeder Pflegeplanung. Denn jede professionelle Pflegeplanung gleicht die vorhandenen bzw. erhaltenen Selbstpflegemöglichkeiten einer Person mit den ATLs ab – aus der Differenz von vorhandenen Selbstpflegemöglichkeiten und den ATLs wird der Pflegebedarf, also der Bedarf an Unterstützung durch eine andere Person offensichtlich.

Pflege: Herausforderung für den Staat

Vorerst unabhängig davon, ob die Person mit Selbstfürsorgedefiziten die erforderliche Unterstützung zulässt und auch vorerst unabhängig davon, ob die erforderliche Unterstützung auch geleistet werden kann bzw. zur Verfügung steht: Da Europas Gesellschaften zunehmend altern, steigt die Anzahl jener Personen, die Selbstfürsorgedefizite entwickeln und daher Pflegebedarf haben. In sämtlichen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten gibt es einen Mix aus staatlichen und/oder kommunalen Geld- und Sachleistungen. Manche Staaten sind mit ihrem Mix in der Zielerreichung erfolgreicher als andere, die da lautet:  Die erforderliche Anzahl an gewünschten, leistbaren Unterstützungsleistungen1 zur pflegerischen Versorgung ist verfügbar.

Was Österreich betrifft, sind im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz als soziale Lebensrisiken lediglich die finanzielle Absicherung für die Zeit nach der Erwerbstätigkeit (Pension), Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unfall aufgeführt. Das soziale Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit wird nicht explizit erwähnt. In den frühen 1990er-Jahren führte Österreichs Gesetzgeber das so genannte „Bundespflegegeld“ ein. Dabei handelt es sich um eine Geldleistung der gesetzlichen Pensionsversicherung, die mittels Formular beantragt wird. Für die Zuerkennung ist ein vorhandener Unterstützungsbedarf ausschlaggebend, der (voraussichtlich) mindestens sechs Monate bestehen wird. Dabei werden notwendige Unterstützungsleistungen von mehr als 65 Stunden im Monat vorausgesetzt. Das Bundespflegegeld ist lediglich als Zuschuss zu den tatsächlich anfallenden Pflegekosten konzipiert, jedoch niemals als Vollabdeckung der Pflegekosten. Darüber hinaus hat das Bundespflegegeld mangels Valorisierung seit seiner Einführung etwa ein Drittel an Wert verloren. Mit dem an die pflegebedürftige Person ausbezahlten Geld kann sich diese auf dem „Pflegedienstleistungsmarkt“ die gewünschte bzw. verfügbare Pflegeleistung2 teilfinanzieren. Dieser Modus setzt ein gewisses Maß an Organisationsvermögen oder aber helfende Angehörige voraus.

Hospitation mangels Alternativen

In Österreich gibt es keine „Seniorenwohlfahrt“ analog zur Jugendwohlfahrt, welche sich bedürftigen Menschen, die weder über das eine (eigene Ressourcen zur Auswahl und Organisation der gewünschten Unterstützungs- oder Pflegedienstleistung) noch das andere (Angehörige, welche die Unterstützung/Pflege organisieren) annimmt.

Besteht eine Differenz zwischen Pflegebedarf und organisierter/zugelassener/verfügbarer Unterstützungsleistung, kommt es zur Unterversorgung bzw. Verwahrlosung mit mitunter schwerwiegenden Folgen. Betroffene Personen werden in Österreich häufig in Akutkrankenanstalten aufgenommen: nicht, weil der Bedarf an Diagnostik oder Therapie ein stationäres Setting erfordert, sondern aufgrund des reduzierten Allgemeinzustandes mangels suffizienter pflegerischer Versorgung. Österreich leistet sich (auch) hierfür eine im europäischen und OECD-Vergleich sehr hohe Anzahl an teuren Betten in Akutkrankenhäusern. Auch die Hospitationsrate3 ist in Österreich vergleichsweise hoch (30 Prozent).

Steht dann mangels gesetzlichem Auftrag der Krankenanstalten (Diagnostik und Therapie) die Entlassung solcher Personen aus dem Krankenhaus an, kommt es häufig zu emotional geführten Auseinandersetzungen zwischen PatientInnen, Angehörigen und Krankenhauspersonal. Dann wird um den längeren Verbleib von Personen mit ungedecktem Pflegebedarf gefeilscht und gerungen. Denn jeder Tag, den derart Pflegebedürftige länger im Krankenhaus verbringen, bedeutet für diese Personen die Verfügbarkeit von Pflegepersonal auf Klingeldruck rund um die Uhr – und dies als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Für die Betroffenen und deren Angehörige ist der Klinikaufenthalt häufig attraktiv, denn Pflege zu Hause kostet Geld, und zwar über die Zuwendungen des Pflegegeldes hinaus. Pflege zu Hause ist oftmals nicht rund um die Uhr verfügbar und muss selbst organisiert werden. Oft ist in Situationen akuter Pflegebedürftigkeit das gewünschte Angebot nicht verfügbar, z. B. die zeitlich begrenzte Pflege/Betreuung in einer vollstationären Pflegeeinrichtung.

Grauzone Betreuungs- und Beistandspflicht

Die „Verantwortung“ für pflegebedürftige Menschen ist in Österreich eine Grauzone. Die Krankenanstalten haben keine gesetzliche Pflicht sie zu betreuen, wenn kein Bedarf an stationärer Diagnostik und Therapie besteht, leisten dies jedoch oftmals aufgrund fehlender Alternativen dennoch. Im Familienrecht ist zwar eine „Beistandspflicht“ naher Angehöriger festgeschrieben, diese ist jedoch nicht einklagbar. Familienangehörige können also nicht per Gesetz genötigt werden, die pflegerische Versorgung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen sicherzustellen bzw. zu organisieren.

Im Krankenanstaltengesetz heißt es vage: „Ist vor Entlassung einer pflegebedürftigen Person deren Versorgung nicht gewährleistet, ist der zuständige Sozialhilfeträger zu verständigen.“ In der Praxis hören MitarbeiterInnen von Krankenanstalten bei Kontaktaufnahme mit dem zuständigen Sozialamt häufig, dass es aktuell keinen verfügbaren Pflegeplatz im extramuralen Bereich gäbe. Man bedaure dies, es sei jedoch aktuell nicht zu ändern. So verbleiben pflegebedürftige Menschen vielfach über Wochen oder Monate in teuren Akutkrankenanstalten, weil es keine günstigeren Alternativen im extramuralen Bereich gibt.

Mangelnde individuelle Vorbereitung

Aber auch die individuelle Vorbereitung von Menschen auf potenziell eintretende Unterstützungsbedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit, vor allem in zunehmendem Lebensalter, ist in Österreich unterdurchschnittlich. Der/die Einzelne befasst sich zu selten gedanklich mit Themen wie den künftigen altersbedingten Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens, dem Bedarf an Unterstützung und den damit vernünftigerweise abzuleitenden Maßnahmen.

Letztere wären beispielsweise eine Anpassung des bisherigen Wohnraumes an mögliche, altersbedingte Einschränkungen und die gedankliche und proaktive Befassung mit verfügbaren Unterstützungs- und Pflegedienstleistungen sowie deren Finanzierung. Themen wie Hilfsbedürftigkeit, Gebrechlichkeit, Inkontinenz, Krankheit, aber auch die eigene Endlichkeit, gelten als unangenehm und werden in Gedanken und Gesprächen tendenziell eher vermieden, verdrängt und tabuisiert.    

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es bereits jetzt in Österreich mehr Bedarf als Angebot an Pflegedienstleistungen gibt. Der ungedeckte Bedarf wird teilweise durch Pflegekräfte, häufiger durch Betreuungskräfte aus dem Ausland ausgeglichen, der Bedarf an Pflegedienstleistungen steigt jedoch. Es gibt hierzulande kein intelligent aufgesetztes System, welches Pflegebedürftigkeit als soziales Lebensrisiko wahrnimmt und die unzulängliche Trennung zwischen Krankenversicherung und Pflegefinanzierung überwindet. Es gibt kein intelligent aufgesetztes System, das die derzeit bestehenden Schnittstellenprobleme minimiert, das erforderliche Pflegedienstleistungen und Betreuungsleistungen in hoher Qualität am „Best Point of Service“ anbietet.

Bedarf an Umgestaltung auf mehreren Ebenen

Österreich geht den Weg, Pflege vielfach in teure Akutkrankenanstalten auszulagern, was aufgrund der ungünstigen Kostenstruktur in der Vergangenheit schon mehrfach vom Rechnungshof kritisiert wurde. Im Zuge der COVID-19-Krise wurde Österreich für seine vielen Akutbetten ausdrücklich gelobt, und damit scheint nun zumindest vorläufig der Leidensdruck zur Umgestaltung der Gesundheits- und Sozialstruktur reduziert. Die vielen teuren Betten in Akutkrankenanstalten werden zumindest vorerst bestehen bleiben und – in Zeiten außerhalb globaler Pandemien – vielfach von pflegebedürftigen Menschen ohne akuten Bedarf an stationärer Diagnostik und Therapie belegt sein. Auch deshalb, weil es leichter fällt, Pflegepersonal für Akutkrankenanstalten zu gewinnen als für Langzeitpflegeeinrichtungen oder die mobile Pflege.

Auch gehört eine Ausbildung in der Pflege nicht unbedingt zu den erstrebenswertesten Alternativen der österreichischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen; diese studieren lieber Jus, Medizin, Psychologie oder BWL. Offensichtlich ist der Pflegeberuf nicht ausreichend attraktiv – ein Umstand, der seit mehreren Jahrzehnten beklagt, aber kaum mittels politischer Intervention verändert wird.

„In Österreich wird Pflegebedürftigkeit nicht als gesamtgesellschaftliche Herausforderung wahrgenommen“, sagt Bernhard Weicht, Soziologe an der Universität Innsbruck. Dem kann ich nur zustimmen: Die Pflegeversorgung einer zunehmend alternden Bevölkerung ist in Österreich eine riesige Dauerbaustelle. 

 

1 Unterstützungsleistung:  Hier sind nicht ausschließlich Pflegeleistungen zur Abdeckung der ATL gemeint,  sondern eher hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Wäschepflege, Einkäufe, Besorgungen, Reinigung der Wohnung, Zubereitung von Mahlzeiten, Unterstützung bei Behördenwegen, Antragstellungen usw.

2 Pflegedienstleistungen: direkte Hilfestellung am Menschen, z. B. Unterstützung bei der Körperpflege, bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, bei der Ausscheidung, Reichung oder Applikation von Medikamenten.   

3 Hospitationsrate: Binnen Jahresfrist werden von 100 Einwohnern 30 zumindest ein Mal in einer Akutkrankenanstalt stationär aufgenommen.

  

Mag. Gundula Göbel

Maga.Gundula Göbel, DGKP,  ist Politikwissenschafterin und diplomierte Erwachsenenbildnerin. Sie war mehrere Jahre im akutstationären Bereich, davon 12 Jahre im PatientInnenentlassungsmanagement in einem öffentlichen Krankenhaus im Land Salzburg tätig. Seit Juli 2019 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der PMU.