Seit Juni im 91. Lebensjahr angekommen, blickt meine Großmutter, genannt Oma Herta, auf ein langes und wechselvolles Leben zurück. Mit dem Vorhaben, ein kleines Interview zum Thema Pflege im Seniorenheim mit ihr zu führen, besuche ich sie vergangene Woche. Schließlich ist sie Expertin mit langjähriger Erfahrung – hat sie doch eine beachtliche Krankheitsgeschichte, beängstigende Diagnosen, mühsame Therapien und auch anhaltende Schmerzen hinter sich, die sich immer wieder in ihren Lebensmittelpunkt drängten. Seit zehn Jahren ist sie verwitwet, hat Erfahrungen mit 24-Stunden-Pflege und Hauskrankenpflegediensten gesammelt, sowie viele Krankenhausaufenthalte hinter sich gebracht.
Vor wenigen Jahren passierte etwas Folgenschweres: meine Großmutter lebte noch allein in ihrer Wohnung und stürzte mitten in der Nacht schwer. Das Rufhilfegerät vom Roten Kreuz, welches sie am Handgelenk trug, war defekt und so verbrachte sie mehrere Stunden, bis sie selbständig zum Telefon gelangen und Hilfe holen konnte. Die Nachbarn hatten ihre Rufe leider nicht gehört. Gott sei Dank erholte sie sich von den körperlichen und psychischen Folgen relativ rasch, trotzdem hinterließ dieses Ereignis seine Spuren. Das vermehrte Gefühl des Angewiesenseins auf fremde Hilfe und der durch die Gehhilfe deutlich eingeschränkte Bewegungsradius, der auch immer weniger Sozialkontakte ermöglichte, bewogen sie schweren Herzens dazu, sich doch für ein Wohnen in einer betreuten Einrichtung zu entscheiden. Im August 2020 stand dann der Einzug ins Seniorenheim an – in der Stadt war kein Platz, es wurde auf’s Land ausgewichen.
„Komisch war das schon“, sagt sie rückblickend zu ihren ersten Tagen dort, „ich hab‘ wirklich gar niemanden gekannt“. Zu Beginn wurde sie in einem Stockwerk einquartiert, wo das Einleben schwerfiel: „Bei den ganz hohen Pflegestufen, wo die Leute bettlägerig sind oder sehr dement, man kann ja mit niemandem reden“. Sie konnte aber nach wenigen Wochen innerhalb der Einrichtung umziehen und in dieses jetzige Zuhause auch ein Stückchen alte Heimat in Form von Möbeln ihrer ehemaligen Wohnung mitnehmen. Nun fühlt sie sich „sehr gut aufgehoben und die Bewohner sind alle freundlich und nett. Ich hab fast den ganzen Tag die Zimmertür offenstehen“.
Welchen Eindruck hat sie vom Pflegepersonal? „Viele sagen es ist das beste Pflegeheim da. […] Sie haben sehr viele Männer, also Pfleger. Fast die Hälfte. Einer ist besonders nett, der hat mir auch mein Kästchen hier aufgestellt. […] Die meisten sind Einheimische aus dem Dorf und sind schon sehr lange da. […] Sie haben eigentlich nicht viel Arbeit mit mir. Gott sei Dank. Das Einzige was ich brauche sind die Augentropfen und das Duschen. Und es kommt immer jemand das Bett zu machen.“ Wie stellt sie sich vor, dass es sich anfühlt, als Pflegekraft in dieser Einrichtung zu arbeiten? „Sicher haben sie’s auch schwer. Eine körperliche Herausforderung ist es schon.“ Und darüber hinaus: „Also die Geduld hätt‘ ich nicht, das muss man schon sagen. Man muss schon sehr, sehr geduldig sein. Alles dauert so lange und man muss fünfzigmal das Gleiche sagen. Sie bringen auch immer allen den Speiseplan, obwohl ihn eh fast keiner liest und müssen dann erst recht wieder allen ganz oft sagen, was es zum Essen gibt. Oft drei Mal. Und dann bestellen manche erst recht wieder um.“
Wie sieht es mit den Auswirkungen der Pandemie in ihrer Einrichtung aus? Schrittweise kleine Erleichterungen nach den ersten sehr anstrengenden Corona-Monaten für die Pflege seien jetzt festzustellen: „Am Anfang von Corona musste immer eine Schwester beim Eingang sitzen, wegen der Tests für die Besucher. Das ist jetzt besser organisiert.“ Über ihre dienstlichen Verpflichtungen hinaus gebe es seitens der Pflegenden viele Bemühungen, den Bewohner*innen Abwechslung und Unterhaltung zu ermöglichen: „Wir haben zum Beispiel eine Schwester, die ist mit den anderen früher immer einkaufen gefahren, wenn sie Kleidung gebraucht haben. Die kommt aus der Modebranche. Jetzt bestellt sie es für uns im Internet, die weiß, was etwas für uns ist.“
Obwohl sich Bewohner*innen und Pflegende an sämtliche Corona-Vorschriften gewöhnt hätten und die Pandemie längst Alltag ist, sei es doch schade, dass immer noch „viel zu wenig los“ sei und sich die Bewohner*innen wieder mehr Angebote wünschten. „Es war so lange gar kein Programm. Jetzt haben wir wieder Gedächtnistraining, immer eine Stunde. Weihnachtsfeier und Krampusfeier kenne ich nur vom Erzählen, das war angeblich früher großartig.“
Der Besuch ist zu Ende. Zum Schluss fällt Oma Herta noch etwas ein und sie beginnt zu lachen: „Kirche ist jetzt auch wieder – da jammern‘s recht, dass so lang nix ist, dann ist wieder Kirche und dann gehen sie nicht, weil’s angeblich zu so einer blöden Zeit ist! Haben doch eh nix zu tun!“ Ihr Lächeln überträgt sich auf diejenigen, die uns begegnen, als sie mich mit dem Rollator hinausbegleitet. Ich habe das Gefühl, dass trotz turbulenter Zeiten für Senior*innen und großen Herausforderungen für Pflegende im Seniorenheim die Zuversicht, der Sinn für Humor und die positive Grundhaltung, die meine Großmutter auszeichnen, auch meine Sicht der Dinge ein Stück auf das Gute fokussieren können. Und ich hoffe ich bin hier nicht die Einzige.