Das Phänomen Gewalt in der Pflege

Das Jahr der Pflege bietet Anlass, sich mit unterschiedlichsten Pflegethemen zu beschäftigen. Dazu zählt auch die Auseinandersetzung mit negativen Ereignissen innerhalb der Pflegebeziehung. Die Pflege ist, wie viele Bereiche, in denen Menschen agieren, nicht vor problematischen und schwierigen Situationen gefeit. Gewalt innerhalb der Pflegebeziehung ist eine jener aktuellen Herausforderungen, der sich Pflegende stellen müssen.

In der Literatur wird die Gewalt innerhalb der Pflegebeziehung in mehrfacher Hinsicht thematisiert und daran anknüpfend werden drei Gewaltkonstellationen unterschieden:

  • Gewalt an Pflegebedürftigen durch Pflegekräfte (in der internationalen Diskussion meist als „elder abuse“ oder „elder mistreatment“ bezeichnet),
  • Gewalt von Pflegebedürftigen gegenüber Pflegenden sowie
  • Gewalt von Pflegebedürftigen untereinander.

Gewalt innerhalb der Pflege kommt demnach wechselseitig vor. Nicht nur Pflegebedürftige werden zu Opfern, sondern auch Pflegende sind vielfach Gewalt ausgesetzt.

Verschiedene Gesichter der Gewalt

Der konkrete Bericht nimmt die Gewalt an Pflegebedürftigen durch Pflegende in den Fokus. Gewalt wird dabei überwiegend im weiten Sinne verstanden und bezieht sich nicht nur auf Körperliche, sondern auch auf verbale Übergriffe wie Demütigungen und schließt auch pflegerische und emotionale Vernachlässigungen mit ein. Das bedeutet, Gewalt kann sich innerhalb der Pflegebeziehung in einem aktiven Tun äußern, aber auch darin, dass grundsätzlich gebotene pflegerische Handlungen unterlassen werden. Die im internationalen Kontext verwendete Bezeichnung „elder abuse“ bzw. „elder mistreatment“ erscheint somit auch passender, als schlichtweg von „Gewalt“ zu sprechen, da unterschiedlichste Erscheinungsformen auftreten.

Die WHO versteht die Gewalt gegen ältere Menschen als „eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion, die im Rahmen einer Vertrauensbeziehung stattfindet und wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird“. Diese Definition enthält einen wichtigen Begriff, der innerhalb der Thematik Berücksichtigung finden muss: die Vertrauensbeziehung, die in der Pflege eines anderen Menschen klar gegeben ist. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass Gewalt in der Pflege zweifellos ein Tabuthema darstellt, da innerhalb der Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten genau das Gegenteil erwartet wird, nämlich Fürsorge, gegenseitiger Respekt sowie die Erhaltung der Lebensqualität. Gewalt und Pflege stellen demnach einen Gegensatz dar. Würde und Integrität eines Menschen werden verletzt, Menschenrechte missachtet. Das macht es so schwierig, Gewalt und Pflege in einem Atemzug zu nennen.

Neben den beschriebenen interpersonalen Gewaltkonstellationen sind natürlich auch strukturelle Formen von Gewalt zu berücksichtigen, wozu Rahmenbedingungen (strukturelle Mängel und Versorgungsdefizite) und organisatorische Abläufe in den jeweiligen Institutionen – wie etwa Tagesgestaltung und der Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen – zählen. Oft treten mehrere Gewaltformen gemeinsam auf, selten kommt es zu einer Form allein.

Persönliche Auswirkungen und rechtliche Folgen

Was die rechtlichen Folgen von Gewaltereignissen in der Pflege betrifft, ist primär die körperliche Gewalt relevant – hier kann das Strafrecht zum Zug kommen. Grundsätzlich ist jede Körperverletzung strafbar, auch wenn sie „nur“ fahrlässig erfolgt, das heißt lediglich aus Unachtsamkeit, und nicht bloß geringfügig ist. Wird beispielsweise heißer Tee verschüttet, der zu Verbrühungen führt, stellt dies zwar eine fahrlässige Körperverletzung da, jedoch landen derartige Geschehnisse nicht vor Gericht. Was andere Formen der Gewalt betrifft, etwa unfreundliches, feindseliges und aggressives Verhalten oder das Vorenthalten von Informationen, so stellen diese meist nur dienstrechtliche Verletzungen dar. Was strukturelle Gewalt betrifft, ist es primär die Aufgabe der jeweiligen Institutionen und der Politik, die Rahmenbedingungen für eine gewaltfreie Pflege zu schaffen. Gewalt innerhalb der Pflegebeziehung kann somit einen kriminellen Tatbestand darstellen, der seitens der Rechtsordnung geahndet wird.

Betrachtet man die direkten Folgen bei den Betroffenen, stellt Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen klar ein humanitäres, menschenrechtliches Problem mit Folgen dar. Zunächst kann es zu körperlichen Auswirkungen kommen: Verletzungen, Mangelernährung bzw. Flüssigkeitsmangel, Wundliegen. Aber auch die emotionale Gewalt, beispielsweise durch Freiheitsbeschränkung, wirkt sich auf die Gesundheit der Betroffenen aus. Das Ausgeliefertsein und die damit verbundene Angst führen zu Stress, der wiederum oft körperliche Schäden – wie Verspannungen, Herzprobleme, Magenbeschwerden – hervorruft. Soziale Auswirkungen wie Isolation und Rückzug können ebenfalls als Reaktion auftreten.

Probleme beim Sichtbarmachen

Die Folgen von Gewalt sind in der Praxis oft schwer festzustellen – und dies aus unterschiedlichsten Gründen. Teilweise schämen sich Betroffene oder haben Angst, was durch die bestehende Abhängigkeit noch verstärkt wird. Vielfach sind Betroffene aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes unfähig, sich zu Vorkommnissen zu äußern. Auch die Orte, innerhalb der es zur Gewaltausübung kommt, sind entweder gar nicht oder nur beschränkt einer Kontrolle von außen zugänglich: Man denke nur an den familiären Bereich. Und schließlich sind die Symptome, die auf Gewalt hinweisen, vielfach schwer zu beweisen: Sie können altersbedingten bzw. krankheitsbedingen gesundheitlichen Störungen äußerst ähnlich sein.

Forschung findet daher aufgrund des beschriebenen sensiblen Themenbereiches einen erschwerten Zugang. Die meisten Erkenntnisse werden direkt gewonnen, mittels Befragungen von Pflegenden, pflegenden Angehörigen oder innerhalb von Institutionen etwa von Heimaufsicht oder medizinischen Diensten. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Ergebnisse zusätzlich oft nicht vergleichbar und auch Aussagen zu Prävalenzraten schwer zu treffen sind, da Studien vielfach unterschiedliche Gewaltbegriffe und verschiedene Erhebungsmethoden heranziehen.  All diese Aspekte erschweren das Erkennen von Gewalt in der Pflege und lassen das genaue Ausmaß nur erahnen. Studien und aus der Literatur bekannte Erkenntnisse bestätigen jedoch klar, dass innerhalb der Pflegebeziehung eine erhöhte Gefahr für aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten besteht und dass Gewalt in Pflegebeziehungen offensichtlich zum Pflegealltag gehören kann.

Diffiziles Zusammenspiel von Ursachen

Wo liegen die Ursachen für derartige Vorkommnisse? In diesem Zusammenhang muss man sich zunächst fragen, was Pflege als intime Dienstleistung am Menschen mit den beteiligten Personen macht. Hierbei wird klar, dass diese personenzentrierte, enge Beziehung und die damit einhergehende Asymmetrie Machtmissbrauch, Aggression und Gewalt begünstigen. Die Pflege hat das 24-Stunden-Privileg, sich um Patienten zu kümmern – dies ist jedoch Fluch und Segen zugleich. Diese äußerst sensible und gleichzeitig konflikthafte Beziehung und die körperlichen und psychischen Belastungen auf beiden Seiten befördern, im Vergleich zu anderen Lebensbereichen, eine Eskalation. Aber nicht nur Belastung und Überlastung sind ursächlich für Misshandlung und Vernachlässigung innerhalb der Pflegebeziehung: Auch der Zustand von Gewaltopfern, beispielsweise Demenz, schlechte physische oder psychische Verfassung und/oder erhöhter Alkoholkonsum, ist mitursächlich. Schließlich können auch finanzielle Aspekte und die konkrete Beziehung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen eine Rolle spielen. Es ist somit vielfach ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. In ihrer Gesamtheit sind sie ursächlich für eine gewaltbehaftete Pflege.

Mögliche Lösungsansätze und Präventionsmaßnahmen müssen daher auch an verschiedenen Bereichen anknüpfen: Rahmenbedingungen, Arbeitsumfeld, Ausbildung, Selbstpflege der Pflegenden, gute Teamarbeit, Öffentlichkeitsarbeit für eine notwendige Enttabuisierung der Thematik, professioneller Umgang mit Gefühlen, professionelle Gesprächskultur sind nur einige Maßnahmen. In der Praxis bleiben Gewalterfahrungen jedoch leider noch immer vielfach unbearbeitet. Darüber hinaus gibt es zu wenige Angebote für den Umgang mit Gewalt und das Erkennen von Frühsignalen, obwohl seitens vieler Pflegender ein erhöhtes Interesse an der Thematisierung in Form von Aus-, Fort-, und Weiterbildung besteht. Damit Maßnahmen zur Prävention effektiv implementiert und umgesetzt werden können, braucht es auch ein entsprechendes Problembewusstsein bei allen beteiligten Akteuren im Gesundheitswesen.  

Angebote zur „Gewalt in der Pflege

Die zunehmende Bedeutung des Themas zeigt sich auch an der vielfältigen Angebotslandschaft. Pro Senectute in Österreich bietet  zum Beispiel ein Beratungstelefon zum Thema Gewalt in Pflegebeziehungen an. Das ZQP in Deutschland verwaltet eine Onlineseite (www.pflege-gewalt.de), auf der Basiswissen, Praxishinweise zu Gewalt und Aggression in der Pflege zu finden sind, sowie eine Übersicht über Krisen und Notfalltelefone, die in problematischen Situationen hilfreich sein können. Die deutsche Onlinehilfe „Befund: Gewalt“ stellt verschiedene Tools zur Verfügung, um Gewalt zu erkennen und richtig zu dokumentieren (http://www.befund-gewalt.de/). Erwähnenswert ist auch die deutsche „Initiative zur Begrenzung freiheitseinschränkender Maßnahmen in der Altenpflege“. Die von dieser Seite entwickelte Leitlinie gegen freiheitsbeschränkende Maßnahmen zeigt, wie auf freiheitsentziehende Maßnahmen ganz verzichtet werden kann bzw. im Fall der Durchführung negative Folgen reduziert oder gänzlich ausgeschlossen werden können (http://www.leitlinie-fem.de/).

Darüber hinaus findet das Thema Eingang in Ausbildungen, Fortbildungen und Weiterbildungen von pflegenden Personen (Heimhilfeausbildung, Krankenpflegeausbildung etc.). Nur durch eine konsequente Vorgehensweise und ein bewusstes Handeln in diesem Bereich kann dem Phänomen „Gewalt in der Pflege“ Einhalt geboten werden.

Mag. iur. Franziska Lasser-Andratsch

Seit 2014 ist die Juristin Franziska Lasser-Andratsch wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis. Neben juristischen Belangen ist sie unterstützend bei der Assistenz des Institutsvorstandes tätig. Zu ihren schwerpunktmäßigen Aufgabenbereichen gehört zudem die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt in der Pflege. Gemeinsam mit Univ. Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Osterbrink publizierte sie das Buch „Gewalt in der Pflege – Wie es dazu kommt. Wie man sie erkennt. Was wir dagegen tun können?“, welches 2015 im Beck Verlag erschienen ist.