Gamification – spielerische Gesundheits- und Motivationsförderung

Was bedeutet Gamification und was haben Gesundheits-Apps damit zu tun? Welche Vorteile hat sie und welche Risiken birgt sie? Diesen Fragen widmet sich das Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der Paracelsus Universität im Rahmen eines aktuellen Projekts.

Internet, digitale Spielemöglichkeiten in der Gesundheit und ältere Menschen – passt das überhaupt zusammen? Jungen Menschen, die von Kindesbeinen an mit dem Internet, Computerspielen, Smartphones, Apps und digitalen Medien aufgewachsen sind, würden vermutlich sagen, dass spielerischere Elemente im digitalen Gesundheitswesen eine fruchtbare Symbiose sein können. Doch auch ältere Nutzergruppen können von dieser Kombination, sofern sinnvoll abgestimmt und dosiert eingesetzt, profitieren.

Gamification: Bedeutung und Nutzen
Aber was bedeutet Gamification nun genau und wie kann sie im Rahmen digitaler Gesundheitsinterventionen eingesetzt werden? Von Gamification spricht man dann, wenn ein Programm oder eine Anwendung (zum Beispiel eine App) in erster Linie ein Spiel ist und als Spiel konzipiert wurde. Sie verfolgt als Ziel ein gesundheitsbezogenes Verhalten, dessen Veränderung oder häufig auch einen Lerneffekt der Spielenden durch ein übergeordnetes Lernangebot. In diesem Fall handelt es sich um ein „Serious Game“, also ein Spiel mit einem "ernsten" Ziel.

Gamification sagt man zu spielerischen Anteilen von Anwendungsangeboten, deren übergeordneter Zusammenhang einer gesundheitlichen oder lernorientierten Ebene zuzuordnen ist und wofür Elemente aus Video-Gaming, Smartphone- oder Online-Gaming hinzugefügt werden. Durch den spielerischen Anteil sollen die Angebote zu gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen motivieren oder die Bereitschaft erhöhen, an der Gesamtintervention – also der durchgeführten Maßnahme – möglichst lange teilzunehmen (Schmidt-Kraepelin et al., 2019). Wenn also Nutzer/innen einer App für Diabetes-Erkrankte regelmäßig ihre gemessenen Blutzuckerwerte eintragen und für diese Regelmäßigkeit spielerisch belohnt werden, wenn sie eventuell noch weitere Informationen – wie eingenommene Mahlzeiten oder Bewegungspensum – hinzufügen, kann Gamification dieses Verhalten fördern und so den Diabetologen wichtige Informationen zukommen lassen. Des Weiteren können auch Belohnungen für das Konsumieren von Inhalten wie Lerntexten oder -videos dazu beitragen, ein gesundheitsförderliches Verhalten anzunehmen.

Auch maßgeschneiderte Spiele, so genannte „Tailored Games“ können die Bereitschaft der Patienten/innen zur Bewältigung ihrer Krankheit oder ihres Zustands steigern und die Einhaltung einer medizinischen Maßnahme verbessern. Sie bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Patienten/innen zu Langzeitbehandlungen zu motivieren. Gamification und „Serious Gaming“ sind also vielversprechend, wenn es darum geht, die Einhaltung von Therapien zu unterstützen und das Engagement für Maßnahmen im Gesundheitswesen zu fördern (Sardi et al., 2017).


Nebenwirkungen beim Spielen im Kontext digitaler Gesundheitsanwendungen
Es gibt bei der Nutzung von spielerischen Elementen in „Health Behavior Support Systems“ (HBCSS) aber auch nicht beabsichtigte Effekte, welche die Zielsetzungen für die Motivation oder die längerfristige Nutzung verfehlen oder sogar negative Wirkungen auf die gesundheitliche Entwicklung haben können.

  • Negative motivatorische Effekte. Durch stark auf die extrinsische Motivation fokussierte Gamification-Elemente kann die intrinsische Motivation von Menschen an die Gamification-geförderte Motivation gekoppelt werden. Das „richtige“ Verhalten wird dann nur noch mit dem Spiel in Verbindung gebracht. Ebenfalls negativ auf die Motivation wirken unerfüllte Erwartungen, die an den Spaß und Spannungsfaktor des Spiels mit therapeutischem Effekt gerichtet werden können.

  • Informational Noise. Diese Erscheinung kann auftreten, wenn das Spiel und dessen Elemente vom gesundheitlichen Fokus der Anwendung zu stark ablenken oder diesen sogar überlagern. Auch die Nutzbarkeit einer App kann durch die Gamification-Elemente beeinträchtigt werden. Von Informational Noise wird auch gesprochen, wenn der gesundheitliche Kontext der Anwendung zugunsten des spielerischen Ansatzes zu stark trivialisiert wird.

  • Reduzierte Integrität beim Üben. Diese Nebenwirkung kann im übungs- und trainingsintensiven Gesundheitsbereich eine wichtige Rolle spielen: Menschen neigen nunmal dazu, sich gelegentlich selbst zu beschummeln. Es kann also durchaus vorkommen, dass User/innen falsche Angaben machen oder Tracking und Messsysteme zu überlisten versuchen, und dann vom Algorithmus des Spiels für falsch dokumentiertes Verhalten belohnt werden.

  • Demoralisierung der User/innen. Dazu zählt das Mogeln im Spiel, um sich anderen Nutzern/innen gegenüber in Vorteil zu bringen, was bei den „Verlierern“ erhebliche Frustration auslösen kann. Zudem kann auch eine zu starke Gruppendruck-Situation demoralisierend wirken. Gewinne nicht zu erzielen, hat generell einen demotivierenden Effekt, der bei spielerischen Elementen immanent ist.

  • Grenzüberschreitungen. Unerwünschte Effekte sind das Verletzen der Privatsphäre oder spielerische Elemente, die Dritten Schaden zufügen. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass insbesondere die erreichten Spielziele mit Krankenversicherungen oder Arbeitgebern/innen geteilt werden (Schmidt-Kraepelin et al., 2019).


Was beim Einsatz von Gamification beachtet werden soll
Zur Vermeidung von Fallstricken sind zwei Vorgehensweisen essenziell: Zum einen sollte man die Zielgruppe und deren spielerische Vorlieben schon sehr frühzeitig in die Entwicklung des „Health Behavior Support Systems“ (HBCSS) einbeziehen. Nehmen wir als Beispiel Menschen über 65 Jahre nach einer Gelenkersatzoperation aufgrund einer Arthrose in Knie oder Hüfte: Diese werden als physische Aktivität in der Rehabilitationsphase kaum von einem klassischen „Baller-Spiel“ profitieren. Es ist also wichtig, welches Verhalten belohnt wird – und auf welche Weise. Eine Untersuchung verschiedener Spielvarianten von Health Behavior Support Systems (HBCSS) zeigte, dass User/innen zwischen 18 und 84 Jahren die Elemente Fortschritt, Ziele, Punkte und Levels bevorzugten, um in diesem Fall die physische Aktivität zu fördern. Nutzer/innen wollen dabei höchstens drei dieser Elemente im Angebot haben. Die zurzeit am häufigsten anzutreffenden Gamification-Elemente in HBCSS sind:

  1. Fortschritt: Der Nutzer/die Nutzerin sieht, dass er/sie einen direkten oder fiktiven Weg zurückgelegt hat.
  2. Ziele: Es können (eigenständig) Ziele gesetzt werden, die bei Erreichen belohnt werden.
  3. Punkte: Bei positivem Verhalten in der HBCSS werden Punkte gutgeschrieben.
  4. Level: Das Erreichen neuer Levels lässt einen Fortschritt erkennen („Ich war hier, jetzt bin ich ein Stück weitergekommen“).
  5. Ranglisten: Diese ermöglichen es, sich selbst mit fiktiven oder tatsächlichen Nutzern zu vergleichen.
  6. Auszeichnungen/Wimpel: Einsatz visueller Möglichkeiten, um verschiedene Ziele zu erarbeiten.
  7. Narrative: Im Spielverlauf werden fiktive Geschichte erlebt.
  8. Virtuelle Güter/Waren: Diese können durch Fortschritt erworben werden.
  9. Soziale Interaktion: Das eigene Verhalten kann mit dem anderer Nutzer/innen verglichen werden.
  10. Avatare: User/innen haben die Möglichkeit, einen virtuellen (selbst gestaltbaren) Charakter einzubinden.

(Schmidt-Kraepelin et al., 2019)

 

Gamification – ein Beispiel aus der Praxis
Am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität wird derzeit im Projekt pabee (Patientenbegleiter bei endoprothetischen Eingriffen) eine App als Intervention getestet, um das Gesundheitsverhalten bei Patienten/innen mit einer erstmalig implantierten Knie- oder Hüft-Endoprothese positiv zu beeinflussen. Dazu wurde die App RECOVER-E entwickelt, die ebenfalls Gamification-Anteile besitzt. In verschiedenen Themengebieten der App kann ein Level-Aufstieg vom „Einsteiger“ bis zum „Superprofi“ durchlaufen und dieser Fortschritt in einer durch unterschiedliche Pokale visualisierten Erfolgsansicht angeschaut werden. Erste Veröffentlichungen der Ergebnisse des Projektes sind für den Herbst 2020 geplant.

 

Abb. 1: das nächste Level ist erreicht

 

Abb. 2: hier können die erreichten Pokale angesehen werden

 

Gamification – ein Fazit
Derzeit sind längst nicht alle älteren Menschen digital unterwegs. Zu der Gruppe der „Offliner“ gehören in Deutschland rund zehn Millionen Menschen, dies sind zu 75 Prozent über 65-Jährige. Allerdings zeigen die Zahlen auch, dass ein Technik-Generationeneffekt eintritt: Die Generationenlücke schließt sich (langsam) und mittlerweile nutzen auch über 70-Jährige zu 45 Prozent regelmäßig das Internet. Insbesondere dessen mobile Nutzung nimmt bei den älteren Generationen deutlich zu. Die Gruppe der Nutzer/innen wächst ständig und aufgrund längerer Entwicklungszeiten von wirklich nützlichen und evidenzbasierten HBCSS von teilweise mehreren Jahren bis zum Einsatz auf dem freien Markt ist es sinnvoll, möglichst frühzeitig die Entwicklung solcher Formate zu beginnen. Damit wird in der Entwicklung sichergestellt, das die Anwendung dem Nutzer wirklich etwas bringt (Stubbe, Schaat, & Ehrenberg-Silies, 2019). Gamification in digitalen Gesundheitsinterventionen kann durchaus positive Effekte herbeiführen, wenn gewisse Regeln eingehalten werden und das Feature an der richtigen Stelle eingesetzt wird.

 

Weiterführende Literatur und Links:

Sardi, L., Idri, A., & Fernández-Alemán, J. L. (2017). A systematic review of gamification in e-Health. Journal of Biomedical Informatics, 71, 31–48. https://doi.org/10.1016/j.jbi.2017.05.011

Schmidt-Kraepelin, M., Thiebes, S., Stepanovic, S., & Mettler, T. (2019). Gamification in Health Behavior Change Support Systems—A Synthesis of Unintended Side Effects. Gehalten auf der 14th International Conference on Wirschaftsinformatik, Siegen. https://doi.org/10.24251/HICSS.2018.150

Schmidt-Kraepelin, M., Thiebes, S., Schöbel, S., & Sunyaev, A. (2019). User´s Game Design Element Preferences in Health Behavior Change Support Systems for Physical Activity: A Best-Worst-Scaling Approach. Gehalten auf der Fortieth International Conference on Information Systems, Munich. Abgerufen von https://www.researchgate.net/publication/336058271_Users%27_Game_Design_Element_Preferences_in_Health_Behavior_Change_Support_Systems_for_Physical_Activity_A_Best-Worst-Scaling_Approach

Stubbe, J., Schaat, S., & Ehrenberg-Silies, S. (2019). Digital souverän? Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter (S. 80). Abgerufen von Bertelsmann Stiftung website: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Smart_Country/Digitale_Souveraenitaet_2019_final.pdf

David Bruns

David Bruns ist examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter der Münsteraner Außenstelle am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis.  Zudem studiert er aktuell im Studiengang Pflege- und Gesundheitsmanagement an der Fachhochschule Münster (Münster School of Health).

Nadine Schüßler, MSc

Nadine Schüßler , Master of Science der Pflegewissenschaft und Gesundheits- und Krankenschwester, hat nach einer PMU-Pause von 2014 bis 2018 den Weg in die wissenschaftliche Mitarbeiterschaft am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis zurückgefunden. Dort ist sie im Projekt pabee tätig, in dem eine smartphone-App für Menschen rund um eine Hüft- oder Knieendoprothese entwickelt und evaluiert wird. Sie befasst sich auch in der Arbeit für das Doctor of Philosophy (Ph.D.) Programm Nursing & Allied Health Sciences mit der Erfahrung Älterer im Umgang mit eHealth. Daneben kümmert sie sich um Themen des pflegerischen Schmerzmanagements, Schmerzen bei alten chronisch kranken Menschen und bei Menschen mit komplexer Behinderung.