Ethik in der Pflege

In gesellschaftlichen und manchen fachlichen Diskussionen erscheinen oftmals die „großen Entscheidungen“ besonders relevant, die lebensentscheidende Therapien betreffen. Ethik in der Pflege betrifft jedoch ungleich häufiger die vermeintlich „kleinen“ Entscheidungen im Alltag, die direkt im Verantwortungsbereich der Pflegenden liegen und unmittelbar Auswirkungen auf die Versorgung und Lebensqualität der Pflegebedürftigen haben.

Florence Nightingale veröffentlichte 1860 ihr Buch „Notes on Nursing: What It is and What It is Not“. Ziel dieses Werks war, die häusliche Pflege durch Laien – und in späteren Ausgaben durch professionell Pflegende – zu verbessern. Das Buch enthält daher ganz basale Hinweise darauf, wie die Lebenssituation und Pflege von erkrankten Menschen gestaltet werden kann. Im Fokus stehen vor allem deren Bedürfnisse und die angemessene Reaktion der (professionell) Helfenden darauf. So findet schon bei Florence Nightingale die Pflege ihren Ursprung in der Art, Beziehungen zu gestalten.

Moderne Definition der Pflege. Der heute gültige Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) richtet sich an professionell Pflegende und umfasst Schwerpunkte, die ebenfalls die Beziehung dieser Berufsgruppe zu pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen, d.h. möglicherweise vulnerabler (verletzlicher) Personen betreffen. Es wird aber auch das Verhältnis zu Kollegen verschiedener Berufsgruppen oder der Gesellschaft thematisiert. Dem Pflegeberuf werden dabei vier grundlegende Aufgaben zugesprochen. Diese sollen – sowohl auf individueller Beziehungsebene, im organisatorischen Kontext von Institutionen als auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen – Gesundheit fördern, Krankheit verhüten, Gesundheit wiederherstellen und Leiden lindern. Zudem formuliert der Kodex den zentralen Anspruch, dass Pflege untrennbar mit der Achtung der Menschenrechte verbunden ist. Damit zeigt er nicht nur auf, dass Beziehungsgestaltung ein zentrales Element von Pflege ist, sondern auch wie und unter welcher Maßgabe diese Beziehungen gestaltet werden sollen.

Doch was heißt das genau? Sollte es nicht selbstverständlich sein, die (Menschen-)Rechte eines jeden Menschen zu achten? Gibt es Situationen, in denen das nicht gelingt und wenn ja, warum? Gibt es bestimmte Personen, Bedürfnisse und Situationen, bei denen dieser Anspruch weniger gut verwirklicht werden kann?

Von Ethik und (Binnen-)Moral. Detlef Rüsing führte ein Interview mit Prof. Dr. Martin W. Schnell, Lehrstuhlinhaber für Sozialphilosophie und Ethik im Gesundheitswesen an der Universität Witten/ Herdecke und Dozent am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der PMU.  Dieser nimmt dort die Position ein, dass Ethik weder ein Sonderbereich in der Pflege ist, noch ein Thema für Sozialromatiker (Schnell/Rüsing 2015). Er behauptet im Gegenteil: „Ethik ist immer!“ Auch wenn beruflich Pflegende rein rechtlich keinen Aufgabenvorbehalt haben (und zum Beispiel nicht über eine Standes- bzw. Berufsethik ihr Tun oder Lassen direkt begründen können), entnehmen Pflegende aus der Nähe zu ihren Patienten und ihrer Garantenstellung dennoch einen ethischen Auftrag. Oftmals ist es so, dass sich in Einrichtungen oder Teams eine Binnenmoral entwickelt, die dann einen Begründungsrahmen für das Handeln gibt.

Diese Binnenmoral kann positive Effekte haben, vollkommen unreflektiert aber durchaus auch negative Folgen (vgl. Seidlein 2015). Einrichtungen bedürfen somit einer Möglichkeit zur ethischen Reflektion, und diese sollte die Rolle von Pflegenden und die angesprochene Beziehungsgestaltung beinhalten. Aber auch begrenzte Ressourcen und Personalknappheit oder festgefahrene Organisationsstrukturen, die zu hohen Belastungen führen, müssen reflektiert werden. Wichtig erscheint es, so Schnell, miteinander zu sprechen und so die Möglichkeit zu erhalten, mit den sich ergebenden Herausforderungen und Ambivalenzen umzugehen. Dahinter steht nicht allein der Anspruch, dass Pflege unter Berücksichtigung ethisch-moralisch relevanter Ansprüche gestaltet werden soll. Vielmehr ist Pflege ganz grundsätzlich mit Ethik verbunden und die Herausforderungen, die sich stellen, sind ebenso vielfältig wie die beschriebenen Aufgaben.

Die Bedeutung der „kleinen“ Entscheidungen. In gesellschaftlichen und manchen fachlichen Diskussionen erscheinen oftmals die „großen Entscheidungen“ besonders relevant, die lebensentscheidende Therapien betreffen. Aus pflegerischer Sicht sind dies klinisch-ethische Entscheidungen, in denen professionell Pflegende die Rolle von Vermittlern und eine Garantenposition einnehmen, aber nicht im eigenen Verantwortungsbereich handeln. Ethik in der Pflege betrifft jedoch ungleich häufiger die vermeintlich „kleinen“ Entscheidungen im Alltag, die direkt im Verantwortungsbereich der Pflegenden liegen und unmittelbar Auswirkungen auf die Versorgung und Lebensqualität der Pflegebedürftigen haben. Dazu drei kurze Beispiele.

Frau Müllender ist 74 Jahre alt und wohnt mit ihrem pflegebedürftigen, dementen Ehemann in einem Einfamilienhaus. Bei der Pflege wird sie von einem Pflegedienst und ihrer Tochter unterstützt. Nach einem Sturz wird Herr Müllender ins Krankenhaus eingeliefert seine Gattin begleitet ihn und ruft kurz darauf vollkommen aufgelöst ihre Tochter an. Da sie eine Vollmacht habe, hätten die Ärzte mit ihr gesprochen und erklärt, was nun alles getan werden könne. Sie habe aber nur verstanden, dass der Vater auf der Intensivstation läge und sie nun entscheiden solle, was weiter passiert. Sie wisse das aber nicht: „Darüber haben wir nie geredet, als das noch ging!“

Die 87-jährige Frau Aarhus lebt alleine und benötigt lediglich Hilfe bei den größeren Einkäufen. Sie ist noch sehr aktiv und trifft sich jeden Samstagvormittag mit zwei Freundinnen in einem Café. Als sie für einen geplanten Eingriff ins Krankenhaus eingeliefert wird, kommen diese beiden Freundinnen sie selbstverständlich besuchen. In der dritten Woche bleibt der Besuch jedoch aus, und Frau Aarhus macht sich große Sorgen. Als ihr Sohn zu Besuch kommt, wird er von der zuständigen Pflegenden auf die Bekannten angesprochen. Er berichtet daraufhin, dass eine der beiden Damen in der vergangenen Woche verstorben wäre und die andere nach einem Sturz ebenfalls im Krankenhaus läge. Es ginge ihr sehr schlecht. Seine Mutter dürfe dies aber in keinem Fall erfahren, da sie das nur traurig machen würde. Als die Pflegende später in das Zimmer kommt, berichtet Frau Aarhus von dem schönen Besuch. Sie bittet sie jedoch auch darum herauszufinden zu versuchen, was mit ihren Freundinnen los wäre. Schließlich können in ihrem Alter alles Mögliche passieren.

Herr Wießlich ist 43 Jahre alt und schwer an Hodenkrebs erkrankt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von 14 und 8 Jahren. Nach einer OP und mehreren Chemotherapie-Zyklen ist er zunächst sehr zuversichtlich. Im Dezember letzten Jahres jedoch erfährt er, dass eine kurative Behandlung nicht mehr möglich ist. Er hat seitdem viel Zeit mit seiner Familie verbracht und die Zeit genutzt, um seinen Kindern möglichst viele schöne Erinnerungen mitzugeben. Seit Anfang März geht es ihm nun sehr viel schlechter und er wird zunächst auf der Palliativstation aufgenommen, wobei eine baldige Überweisung in ein Hospiz geplant ist. In dieser Situation eskalieren weltweit die Covid-19-Infektionen. Die Maßnahmen der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie treffen die Familie hart. Was ist, wenn der Sterbeprozess weiter fortschreitet? Wird es möglich sein, sich würdig voneinander zu verabschieden?

Ethik und die Trias der Werte. Wenn über diese und andere Situationen diskutiert wird, stehen drei Werte im Mittelpunkt, die auch in anderen Diskussionen unserer Gesellschaft elementar sind: Autonomie, Fürsorge und Gerechtigkeit (Schnell 2017). Das Besondere an Ethik im Gesundheitswesen ist nun, dass hier die Art und Weise betrachtet wird, in der die drei Prinzipien im Gesundheitswesen, also in der Behandlung und Pflege von Patienten und in deren Finanzierung, zur Geltung und Beachtung kommen.

  • Autonomie: Diese ist als Selbstgesetzgebung zu verstehen und beinhaltet den Auftrag, dass der Wille des Menschen, jedes Menschen, zu achten ist. Doch wie soll dies bei Herrn Müllender gelingen? Wie soll sein Wille erkannt werden? Wie soll die Autonomie anderer vulnerabler (verletzlicher) Menschen geachtet werden? Welche Rolle nehmen dabei Angehörige ein – und ist diese Rolle zumutbar?
  • Fürsorge: Diese meint die verantwortungsvolle und handlungsleitende Anerkennung des Anderen und seiner Bedürfnisse (Schnell 2008). Daraus ergibt sich der Anspruch, bedürftigen Menschen zu helfen. Doch was passiert, wenn diese Fürsorge der Autonomie entgegensteht? Wie ist das Bedürfnis des Sohnes von Frau Aarhus zu verstehen, seine Mutter vor dem Verlust der letzten Freundinnen zu schützen? Wie kann Fürsorge um eine vulnerable Person gewährleistet werden, auch angesichts deren Autonomie?
  • Gerechtigkeit: Diese bedeutet, dass jedem das Seinige zuteil wird, d.h. das Anders-Sein des jeweils anderen anerkannt wird und auf dieser Grundlage eine angemessene, gleichberechtigte Zuteilung stattfindet (Schnell 2008). Dazu gehört unter anderem auch, dass die Versorgung bedürftiger Menschen angemessene Ressourcen und Rahmenbedingungen benötigt. Wie ist in diesem Kontext die Situation von Familie Wießlich einzuschätzen? Ist es in Zeiten der Corona-Pandemie gerecht, dass Kontaktverbote jeden Menschen gleichermaßen betreffen? Was passiert mit der Besonderheit der Situation, in der sich Herr Wießlich und seine Familie befinden? Wie können wir Gerechtigkeit in der Fürsorge um eine vulnerable Person gewährleisten? Und wie gehen wir mit Ungerechtigkeit um?

Ethik ist also tatsächlich immer! Oben genannte Beispiele kommen so oder ähnlich tagtäglich in verschiedenen pflegerischen Settings vor. Sie verdeutlichen, dass pflegerisches Handeln heißt, kranke und pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen zu begleiten. Zu dieser Begleitung gehören die direkte körperliche Pflege, das Umsetzen therapeutischer Maßnahmen, eine psychosoziale Betreuung – die vielfach vor allem Kommunikation und Vermittlung beinhaltet –, aber auch die Gestaltung der Versorgungsstrukturen nach dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten. Dies führen beruflich Pflegende fachlich korrekt, verantwortlich und ihrem eigenen Verantwortungsbereich entsprechend aus. In diesem Sinne ist Ethik – nicht als reine Reflexion und Diskussion, aber als bewusstes und lösungsorientiertes Handeln – tatsächlich immer!

Literatur:

Schnell, M.W. (2008): Ethik als Schutzbereich, Bern.
Schnell, M.W. (2017): Ethik im Zeichen vulnerabler Personen, Weilerswist.
Schnell, M. W., Rüsing, D. (2015): "Ethik ist immer!" : Ethik ist weder ein Sonderbereich in der Pflege noch ein "Sozialromatiker"-Thema, sondern der Kern der Pflege. Pflegen: Demenz, 35: 20-22.
Seidlein, A-H., et al. (2015): Ethisch problematische Situationen auf der Intensivstation aus der Sicht Pflegender. Pflegezeitschrift, 68(7): 416-421.

 

Ph.D., MSc, BScN Christine Dunger

Christine Dunger ist Pflegewissenschaftlerin und Gesundheits- und Krankenpflegerin. Sie arbeitet seit 2010 als freie Dozentin und seit 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Schwerpunkte ihrer Arbeit finden sich in den Bereichen Ethik, Forschungsethik, Wissenschaftstheorie und qualitative Sozialforschung. Sie ist Mitglied der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft, im Beirat der Zeitschrift pflegen:palliativ sowie Mitherausgeberin der Pflege & Gesellschaft und der Buchreihe Palliative Care und Forschung im Springer Verlag.