Wenn Helfende Hilfe brauchen

Im Weltjahr der Pflege beweisen Pflegekräfte auf der ganzen Welt, dass sie in Krisen besonders belastbar sind und auch unter widrigen Umständen ohne Unterbrechung PatientInnen versorgen. Zu Beginn dieses Jahres hatte sich niemand aus dieser Profession vorstellen können, was auf sie oder ihn zukommt. Pflegekräfte stehen an vorderster Front bei der Behandlung von PatientInnen während der Covid-19-Krise und riskieren dabei ihre eigene Gesundheit.

Die Pandemie hat die Erschöpfung und Belastung der Pflegekräfte noch einmal drastisch dargestellt und in den Blickwinkel der Gesellschaft gerückt. Zwar waren berufliche Erschöpfung und Burnout auch schon vor Ausbruch des SARS-CoV-2-Virus ein Problem bei Pflegekräften aller Disziplinen, fanden aber tatsächlich nur wenig Beachtung.

Psychiatrische Krankenpflege

Psychiatrische Pflegekräfte sind mit anderen Herausforderungen konfrontiert als ihre KollegInnen in den Notfallaufnahmen und Intensivstationen. Sie arbeiten in einem Berufsumfeld, in dem sie täglich Gewalt und Aggression durch PatientInnen ausgesetzt sind und oft Opfer von körperlicher Gewalt werden. Besonders die körperlichen Übergriffe auf Pflegekräfte führen bei diesen zu posttraumatischen Stresszuständen, Traumatisierung und frühzeitigem Ausscheiden aus dem Beruf.

Die Situation auf einer Station für psychiatrische Pflege kann innerhalb weniger Momente von friedlich in unorganisiert wechseln. Wenn PatientInnen das Gefühl haben, nicht verstanden zu werden oder dass auf ihre Bedürfnisse nicht eingegangen wird, reagieren sie aggressiv und drücken ihre Frustration verbal oder nicht-verbal unangemessen aus. In unstrukturierten Situationen sind Pflegekräfte mit Selbstvertrauen, Ruhe und Kontrolle über die eigenen Emotionen gefragt, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Denn unstrukturierte Situationen führen zu Pflegefehlern, unnötigen einschränkenden Therapiemethoden und erhöhter Medikamentengabe, was wiederum das PatientInnen-Pflegekraft-Verhältnis belastet.

Druck auf mehreren Ebenen

Psychiatrische Pflegende wissen es schon lange: Ihr Beruf ist anstrengend, zehrend und stressreich. Einerseits gibt es berufsspezifische Charakteristika wie Schichtdienst, lange und unregelmäßige Arbeitszeiten, wenige Ruhezeiten. Andererseits erhöhen administrative Vorgaben zusätzlich den Arbeitsdruck, indem geringe finanzielle und humane Ressourcen für den (auch steigenden) Arbeitsaufwand gestellt werden. Der Druck lastet schwer auf Pflegekräften, die oft erschöpft und ausgebrannt einfach weitermachen. Die Einflüsse von Burnout sind verheerend und resultieren in häufigem Fernbleiben vom Arbeitsplatz, Erscheinen trotz Krankheit und/oder psychischem Stress oder frühzeitigem Ausscheiden aus dem Berufsleben.

Hinzu kommt, dass psychiatrische Pflegekräfte nicht nur der Gewalt durch PatientInnen ausgesetzt sind, sondern auch Opfer von „horizontalem Mobbing“ werden. Pflegeberufe sind besonders anfällig für dieses Problem, weil die hohe physische und psychische Belastung nach einem Ventil verlangt und sich in Form von verbalen Konfrontationen, Zurückhalten von Informationen, Sündenbock suchen, Rufschädigung, Sticheleien etc. äußert.

Was ist ein Burnout?

Burnout und Erschöpfungszustände sind kein neues Phänomen in der psychiatrischen Pflege. Einige Wissenschaftler nennen Burnout eine Diagnose, die „in“ ist, vereinfachen damit das Problem und unterschätzen die finanzielle Last, die auf dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft liegt. Solche Aussagen heizen die andauernde Diskussion darüber an, ob Burnout auf organisatorische, berufliche oder individuelle Verantwortlichkeiten zurückzuführen ist. Maslach & Leiter untersuchten, ob Burnout auf einer Charakterschwäche oder dem Verhalten einer Person als Ursache begründet werden kann. Daraus folgend könnte dann gesagt werden, dass Personen mit Burnout nicht belastbar und somit für stressreiche Berufe ungeeignet seien.

Diese Attribute finden schnell Verfechter in einer Gesellschaft, die nach permanentem Erfolg strebt und Leistung großschreibt. Gesundheitsorganisationen wären damit aus der Verantwortung und könnten ihren Kurs weiterverfolgen. Jedoch zeigt sich, dass Burnout kein persönliches Problem ist, sondern auf Belastungen im Berufsumfeld und in Arbeitssituationen mit spezifischen Anforderungen zurückzuführen sind.

Im deutschsprachigen Raum wurde 2018 davon ausgegangen, dass ca. 30 Prozent der Pflegekräfte an emotionaler Erschöpfung leiden. Sie liegen damit auch an der Spitze der Fehltage, die in den vergangenen Jahren stark anstiegen.

Hauptursachen und Symptome für Burnout

Maslach und Leiter identifizierten sechs Ursachen, die zu einem Burnout führen:

Arbeitsüberlastung, fehlende Kontrolle und Autonomie, unzureichende Entlohnung, Zusammenbruch des Teamgefüges, mangelnde Fairness und widersprüchliche Werte.

Insgesamt agieren heutige Gesundheitsorganisationen als Wirtschaftsunternehmen, die Kosten massiv reduzieren und Gewinn erzielen. Die PatientInnenversorgung wird von Management und Pflegekräften unterschiedlich verfolgt und lässt sich kaum vereinbaren. Der harte Sparkurs führt zu unterbesetzten Stationen, chronischem Personalmangel, unterqualifiziertem, preiswerterem Personal und Überforderung aller Teammitglieder.

Burnout manifestiert sich sehr individuell durch psychische als auch physische Symptome in unterschiedlichem Ausmaß:

Reizbarkeit, Verringerung der Flexibilität und Kreativität, depressive Symptome, Aggression, Zynismus, professionelle Hilflosigkeit, Distanziertheit zu PatientInnen, Schlaflosigkeit, Schwindel, Herz- und Verdauungsbeschwerden, Atemnot, allergische Reaktionen, Schmerzen, Zu- oder Abnahme des Gewichts, Fibromyalgien, Muskelsteifheit, Tinnitus, GERD, Alkohol- und/oder Medikamentenmissbrauch.

Achtsamkeitspraxis als Prävention

Die evidenzbasierte achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR) nach John Kabat-Zinn, beinhaltet Elemente der Sitzmeditation, achtsamen Körperwahrnehmung (bodyscan) und Hatha Yoga und ist eine wirksame Form der Stressbewältigung. Sie fördert die Resilienz, Empathie und die Selbstachtung.

Achtsamkeit bedeutet, in Form einer Introspektion ohne ein bestimmtes Ziel aufmerksam zu sein, also die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten. Damit verbundenen Gefühle, Erfahrungen sowie Gedanken werden wertfrei wahrgenommen, ohne etwas zu verändern.

Achtsamkeit erlaubt dem Gehirn, sich zu verändern und zu wachsen. Hölzel et al. stellten fest, dass sich durch sie die graue Substanz in Regionen des Gehirns vergrößert, die für Emotionsregulation, Gedächtnis, soziale Kognition und Mitgefühl verantwortlich sind. Donald Hebb stellte bereits 1949 fest: „Neurons that fire together wire together”. Mit anderen Worten: Je öfter Neuronen genutzt werden, desto besser verbinden sie sich zu einem starken Netzwerk. Das bedeutet aber im Gegenzug auch, dass wiederholtes negatives Verhalten und negative Gedanken ebenso ein solcherart besetztes Netzwerk stärken.

Mindfulness-Based Stress Reduction ist auf sieben Pfeilern aufgebaut, die durch eine regelmäßige Praxis erlernt und gestärkt werden: Nicht urteilen, Geduld, Anfängergeist, Vertrauen, nicht erzwingen, Akzeptanz, loslassen.

Sitzmeditation – „Meditiere nicht, sondern sei aufmerksam“

Achtsam sein beinhaltet zwar oft eine Erwartung an etwas, aber Achtsamkeit ist einzig eine Erfahrung. Dazu gehört, dass sich das anfängliche Unbehagen in Neugier verwandelt. Aller Anfang ist schwer: Das Gehirn erlaubt es nicht, einen freien Kopf zu bekommen, sondern sendet einen Gedanken nach dem andern. Oft wird auch von „Affenhirn“ gesprochen. Mit anderen Worten: Jeder Gedanke ist ein Ast und die meditierende Person schwingt sich von Gedankenast zu Gedankenast. Aber Achtsamkeit läßt sich ähnlich wie ein Muskel trainieren, braucht Übung und führt auch zu Frustration, wenn der Fokus permanent gelenkt werden muss.

Zunächst ist die erste Herausforderung, es einfach zu tun, sich Zeit zu schaffen und dran zu bleiben. Als nächste Herausforderung folgt, die eigene Aufmerksamkeit zu stabilisieren und nicht immer in Gedanken abzuschweifen. Meditation kann wie das Zähneputzen zur Gewohnheit werden.

Die Meditation stellt auch eine Art Aufmerksamkeitstraining oder Mitgefühlstraining dar. Sie kann spirituell sein, muss sie aber nicht. Für die Sitzmeditation sollten 30 bis 40 Minuten eingeplant werden. Sie kann allein, in der Gruppe, zuhause oder im beruflichen Umfeld ausgeführt werden. Wichtig ist nur, dass eine Routine entwickelt wird und bei besondere Stressbelastung zusätzlich Achtsamkeit geübt wird.

Body Scan – Die achtsame Körperwahrnehmung

Der Body Scan als Teil der Achtsamkeitspraxis ist keine Entspannungsmethode, sondern eine Aufmerksamkeitsübung, die am Ende des Tages ausgeführt wird. Die Aufmerksamkeit wird dabei auf unterschiedliche Körperteile gerichtet. Der Körper wird anhand der Aufmerksamkeit gescannt, meist von unten nach oben. Körperhaltung, Position im Umfeld, Spannungen und Entspannung, angenehme oder unangenehme Sensationen werden dabei wahrgenommen.

Zur Unterstützung der regelmäßigen Übung dienen unterschiedliche Apps für mobile Geräte. Headspace, 7Mind, Buddhify, Calm, Stop, Breath and Think, Insight Timer oder Mindfulness Coach sind nur einige Apps in deutscher oder englischer Sprache, die kostenfrei oder für einen geringen Betrag angeboten werden.

Achtsam sein – anderen und sich selbst gegenüber

Zusammenfassend kann man sagen, dass unser Gehirn nur eine begrenzte Kapazität für Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Problemlösung hat. Stress und Burnout beeinflussen diese Fähigkeit und schränken psychiatrische Pflegekräfte in ihrer Arbeit mit PatientInnen massiv ein. Pflegekräfte brauchen ihre kognitiven Fähigkeiten, um den komplexen Aufgaben in der Pflege gerecht zu werden. Präsenz im beruflichen Alltag ist dabei unerlässlich. Psychiatrische Pflegekräfte, die mit PatientInnen oder deren Angehörigen arbeiten, müssen sich über die eigenen Gefühle bewusst sein, um negativen Transfer zu vermeiden. Achtsame Pflegkräfte sind in Gesprächen ganz bei den PatientInnen, ziehen keine voreiligen Schlüsse, urteilen oder interpretieren nicht, sondern hören zu. Präsenz während des Zuhörens ist eine Qualität, die PatientInnen schnell wahrnehmen und durch die sie eher bereit sind, sich zu öffnen.

Werden Achtsamkeitsübungen in das tägliche Leben integriert, stärken diese die kognitiven Fähigkeiten und das Erinnerungsvermögen, darüber hinaus lassen sich Gefühle besser benennen und besser regulieren. Dadurch kann es gelingen, weniger Frustration zu erleben und weniger über die Vergangenheit oder Zukunft zu grübeln.

Im Weltjahr der Pflege sollten Pflegekräfte auch beweisen, dass sie für sich selbst sorgen und sich selbst würdigen. Arbeitssituationen, die Burnout verursachen, bleiben womöglich auch künftig unverändert. Verändern Sie sich!

„Vieles kann achtsam ausgeführt werden, aber ein achtsamer Mensch erinnert sich, wer er ist und was wichtig ist – in jedem Moment am Tag.“

 

Die herangezogene Literatur kann bei der Verfasserin (pamela.otto@stud.pmu.ac.at) angefordert werden.

Pamela Otto, RN, MScN, MSc

Pamela Otto ist diplomierte Krankenschwester und registrierte zugelassene Pflegekraft im Staat New York. Seit 2018 leitet sie die Pflegeversorgung in der Forschungsabteilung für PatientInnen mit Essstörungen am New York State Psychiatric Institute in New York City, USA.