Akademisierung der Pflege – ein Rundumblick

Die Berufsgruppe der Pflege wird trotz jahrzehntelanger Forderungen bis heute nicht ausschließlich gemäß ihren Kompetenzen eingesetzt. Pflegende führen immer wieder Aufgaben im Rahmen der Stationsarbeit durch, welche von anderen Servicediensten wahrgenommen werden könnten. Dem gegenüber steht der Bedarf nach mehr qualifiziertem Personal. Joachim von der Heide beschreibt die Notwendigkeit der Akademisierung, deren Problematik im Stationsalltag und den Ausblick auf eine qualitativ hochwertige Versorgung.

Die WHO hat das Jahr 2020 zum Weltjahr der Pflege ausgerufen und verbindet damit verschiedene Forderungen, welche dazu beitragen sollen, die Rahmenbedingungen für Pflegende weiterhin zu verbessern. Wie die internationale Literatur aufzeigt, wird diese Berufsgruppe bis heute nicht ausschließlich gemäß ihren Kompetenzen und Möglichkeiten eingesetzt. Pflegende führen immer wieder Aufgaben im Rahmen der Stationsarbeit durch, welche von anderen Servicediensten wahrgenommen werden könnten. Hierzu zählen vor allem Reinigungs-, Transport- oder Serviceleistungen, die notwendig sind, um das Tagesgeschehen auf einer Station aufrecht erhalten zu können. Einrichtungen und Institutionen haben hier in den letzten Jahren zwar bereits reagiert und zusätzliche Stellen geschaffen, zu Urlaubszeiten oder bei Krankheitsausfällen übernehmen jedoch nach wie vor Pflegende diese Aufgaben. Dies geht in der Regel jedoch zu Lasten der Versorgung von Patientinnen und Patienten.

Bedarf an qualifiziertem Pflegepersonal

Dem gegenüber stehen die Forderungen nach mehr qualifiziertem Personal in der Pflege. So konnten Aiken et al. (2016) in einer länderübergreifenden Studie nachweisen, dass eine höhere Rate an akademisch ausgebildeten Pflegenden zu einer höheren Zufriedenheit bei Patientinnen und Patienten führt, aber auch zu einer höheren Zufriedenheit und Berufsmotivation der Pflegenden selbst. Weitere wesentliche Ergebnisse sind, dass bei einer Steigerung des Prozentsatzes professionell Pflegender die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit der Patient*innen sinkt (OR = 0,89). Währenddessen erhöht sich die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit um 11 Prozent, wenn die Anzahl der Fachkräfte um 10 Prozent herabgesetzt wird.

Der Bedarf an akademisch ausgebildeten Pflegenden wird aufgrund des demografischen Wandels, aber auch aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts in der Pflegewissenschaft und den Bezugswissenschaften, wie beispielsweise der Medizin, weiter ansteigen (Cassier-Woidasky, 2012; Rixe, Löhr & Schulz, 2017). Auch die Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung stellen neue Herausforderungen an die Pflegenden dar (Hurrlemann, 2019).

Ihre Verantwortung im Bereich der öffentlichen Gesundheit und ihr Auftrag im Rahmen der Versorgungskontinuität sind die Gründe, warum der Pflegeprofession eine zunehmend wichtige Rolle zugesprochen wird (WHO, 2015).

Die World Health Organisation [WHO] fordert diesbezüglich globale Standards für die Ausbildung von Pflegenden (WHO, 2009). Sie begründet ihre Forderung damit, dass Pflegende weltweit einen Großteil der im Gesundheitswesen tätigen Personen ausmachen, aber weitgehend zu wenig in die Entscheidungen zur Entwicklung gesundheitspolitischer Fragen involviert sind. Dies könnte laut WHO an einer geringen Wahrnehmung der Pflege oder auch an der aktuellen Ausbildungsstruktur liegen. Die Gründe für die Forderung der WHO nach einer globalen Ausbildungsstruktur sind vielfältig. Zunächst benennt sie die zunehmende Komplexität der Aufgabenfelder, darüber hinaus die unterschiedlichen Ausbildungsmöglichkeiten für unterschiedliche Komplexitätsgrade sowie letztlich die Möglichkeit aller Menschen, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erhalten.

Die WHO beschreibt folgende Handlungsfelder für Pflegende (WHO, 2015. Übersetzung durch den Verfasser):

  • Investition in Ausbildung und deren Verbesserung
  • Personalplanung und Optimierung des Personalmix
  • Sicherstellung positiver Arbeitsumfelder
  • Förderung von evidenzbasierter Praxis und Innovation
    Aufgrund des komplexen Berufsfeldes, so die WHO weiter, müssen sich auch die Kenntnisse, Qualifikationen und Modelle zur Leistungserbringung ändern (WHO, 2015). Dazu sollen der Blick für eine professionelle Pflege geschärft, Ausbildungsstrukturen angepasst und Strategien zur Förderung einer professionellen Pflege weiterentwickelt und umgesetzt werden.

Gesundheitspolitische Reaktionen

Österreich reagierte auf die bestehenden Strukturen im Gesundheitswesen mit einer Novelle des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes im Jahr 2016. Ziel der Gesetzesnovelle war die Verortung der Grundausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege an Fachhochschulen. Für Österreich bedeutete dies eine komplette Umstrukturierung der Ausbildungssituation. Die Gesundheits- und Krankenpflegeschulen mussten innerhalb kurzer Zeit ihre Ausbildungsangebote neu strukturieren, was auch der neu eingeführten generalistischen Ausrichtung der FH-Studiengänge für Gesundheits- und Krankenpflege geschuldet war. Vor allem Schulen für psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflege sowie Kinder- und Jugendlichenpflege verloren ihre Ausbildungsgrundlage. An bestehenden FH-Studiengängen mussten die Studienplätze teilweise verdreifacht werden, andere Fachhochschulen mussten den Studiengang neu aufbauen, um in jedem Bundesland die Möglichkeit zum Studium zu schaffen. Duale Bachelorstudiengänge, welche sich über viele Jahre vornehmlich an Privatuniversitäten etabliert hatten, müssen auslaufen, weil das GuKG kein Bachelorstudium an einer Universität vorsieht.

Notwendigkeit der Akademisierung

Die Diskussion um die Professionalisierung und die Umsetzung der Akademisierung ist sicherlich notwendig, um einem qualitativ wertvollen Versorgungsbedarf in Österreich in allen Versorgungssettings gerecht zu werden. Die Forderungen der WHO, des ICN und weiterer internationaler und nationaler Berufsverbände nach einer professionellen Weiterentwicklung der Pflege sind ernstzunehmende Parameter, welche in Curricula aufzunehmen und umzusetzen sind.
Allerdings muss bei allen Überlegungen auch der Blick auf die Pflegenden selbst gerichtet werden. Pflege ist ein traditionell gewachsener Beruf, welcher sich aus kirchlichen Einrichtungen herausgebildet hat und bis heute Attribute wie Nächstenliebe und Demut zugeschrieben bekommt. Der selbstständige Aufgabenbereich bezog sich bisher auf die Planung, Durchführung und Evaluation von Pflegemaßnahmen im Rahmen des Pflegeprozesses. Das Berufsbild der GuKG-Novelle jedoch wurde maßgeblich erweitert: Eine pflegewissenschaftliche Ausrichtung wird deutlich. Pflegende sollen Pflegemaßnahmen evidenz-basiert durchführen sowie Kenntnisse und Fertigkeiten zur Förderung der Gesundheitskompetenz insbesondere bei chronischen Krankheiten besitzen.
Bisher wurden diplomierte Pflegende nach der Stufe 5 des Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) ausgebildet und somit dazu befähigt, umfassendes spezialisiertes Theorie- und Faktenwissen zu erwerben. Die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege beruhte auf dem Erwerb von anwendungsorientiertem Wissen und dessen Anwendung im pflegerischen Alltag, um auftretende Probleme zu lösen. Pflegende mit einem Bachelorabschluss, welche nach EQR-Stufe 6 ausgebildet werden, erlangen im Rahmen des Studiums darüber hinaus ein kritisches Verständnis von Theorien und Grundsätzen, welches sie dazu befähigen soll, innovative Lösungen für komplexe, nicht vorhersehbare Probleme zu finden.
 
Schaffen von Voraussetzungen


Die Gleichstellung von akademisch ausgebildeten und diplomierten Pflegenden im gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege kann, betrachtet man die Erweiterung des Berufsbildes sowie den unterschiedlichen Kompetenzerwerb in Ausbildung bzw. Studium, zu unerwarteten Problemen innerhalb der Berufsgruppe führen. Ein Grund dafür ist, dass die Aufgabenverteilung im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz nicht explizit an die einzelnen Akteur*innen angepasst wurde. Dies kann dazu führen, dass sich diplomierte Pflegende überfordert fühlen und Sorge vor einer steigenden Verantwortung äußern oder dass akademisch ausgebildete Pflegende ihre im Studium erworbenen Kompetenzen nicht einbringen können. Werden diese Unklarheiten innerhalb der Berufsgruppe der Pflegenden nicht ausreichend berücksichtigt und wird die Etablierung von akademisch ausgebildeten Pflegenden nicht rechtzeitig und ausführlich in Strukturänderungsprozesse einbezogen, kann es zu einer Spaltung der beiden unterschiedlich ausgebildeten Gruppen mit Kompetenzkämpfen kommen.
Eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Kompetenzprofilen und Ausbildungsanforderungen und die Einbeziehung der Pflegenden selbst in die Diskussionen zur Umsetzung der GuKG-Novelle könnten dem entgegenwirken.

Ausblick

Die Akademisierung der Pflege in Österreich ist ein wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung und Professionalisierung der Pflege. Dabei sollte die neue Gruppe Pflegender, nämlich jene mit einem Bachelorabschluss, den bisherigen Personalmix in Einrichtungen des Gesundheitswesens ergänzen. Positive Veränderungen können nur erzielt werden, wenn die Politik und die Verantwortlichen in den Institutionen entsprechende Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen. Die Lernorte der theoretischen Ausbildung sollen weiterhin das aktuell gültige Berufsbild lehren und das Selbstbewusstsein der Studierenden hinsichtlich der Umsetzung des Berufsbildes fördern. Zudem sollten sich die Pflegenden selbst ausreichend mit den Kompetenzbereichen der GuKG-Novelle sowie den notwendigen Veränderungsprozessen auseinandersetzen und als stolzes Mitglied dieser motivierten Berufsgruppe die Veränderungsprozesse mittragen. So können das Erfahrungswissen der diplomierten Pflegenden und die wissenschaftlichen Kompetenzen der akademisch ausgebildeten Pflegenden sinnvoll gemeinsam für eine qualitativ hochwertige Versorgung von  Patient*innen genutzt werden.

 

Die herangezogene Literatur kann beim Verfasser (joachim.heidenoSpam@pmu.ac.at) angefordert werden.

Joachim von der Heide, M.A., Dipl.-Pflegepäd. (FH)

Joachim von der Heide ist examinierter Krankenpfleger mit abgeschlossenem Studium der Pflegepädagogik und Personal- und Organisationsentwicklung. Neben seiner Funktion als Studiengangsleiter des Bachelorstudiums Pflegewissenschaft 2in1-Modell sowie des Masterstudiengangs ANP an der Paracelsus Medizinische Privatuniversität ist er auch Doktorand am Department für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Pflegepädagogik an der UMIT Tirol.