Ethik in der Pflegeforschung - nice to have?

Ethik, so scheint es oft, ist ein Gegenstand für Theoretiker, Philosophen oder solche, die es werden wollen. Die tägliche Erfahrung zeigt jedoch, dass das nicht so ist. In der täglichen Pflegepraxis zeigen sich zahlreiche Situationen, die ethisch relevant sind, auch wenn selten formelle Erklärungen und ethische Begründungen verlangt werden. Spätestens jedoch im Rahmen eines pflege- oder gesundheitswissenschaftlichem Studiums werden diese expliziten Begründungen erforderlich -  auch in Hinsicht auf eine forschungsethische Reflexion der eigenen Projekte oder Abschlussarbeit.

Es tritt die Forderung auf, dass nicht nur das praktische Handeln reflektiert und begründet werden muss, sondern auch das forscherische Vorgehen. Dazu gehört auch, von einer Ethikkommission die Erlaubnis zur Durchführung des geplanten Projektes einzuholen.

Professionell Pflegende im Forschungskontext

Professionell Pflegende können zudem anderweitig in Studien eingebunden sein, ohne die Gesamtverantwortung zu tragen: über die Betreuung teilnehmender Patient*nnen (Bewohner*nnen, Klient*nnen, Gäste sind natürlich mitgemeint), die eigene Teilnahme bis hin zur Mitarbeit im Rahmen der Datenerhebung. Durch diese verschiedenen Arten und Weisen der Eingebundenheit in Forschungsprojekte ergeben sich auch unterschiedliche Aufgaben in Bezug auf die ethische Reflexion (Abbildung 1).

 

So ergibt sich ein Unterschied, ob die professionell Pflegenden an einem Forschungsprojekt mitwirken oder nicht. Wenn sie mitwirken ist zu beachten, welche Funktion sie innehaben.

  • Pflegende in der Patient*nnenversorgung betreuen möglicherweise Personen, die an einem Forschungsprojekt teilnehmen. Sie selbst sind nicht beteiligt, unterstützen aber die teilnehmenden Patient*nnen. Sie vermitteln in gewisser Weise zwischen Patient*n und Forscher*n. Dazu gehört auch, die teilnehmenden Patient*nnen zu beobachten und Auffälligkeiten, die auf negative Folgen der Studienteilnahme zurückzuführen sind, weiterzuleiten.
  • Pflegende als Teilnehmende sind selbst Gegenstand des Forschungsprojektes. Sie sind somit Teilnehmer*nnen/ Proband*nnen oder Expert*nnen, da sie in ihrer beruflichen Tätigkeit Erfahrungen gemacht haben, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sind. Da ihre berufliche Expertise im Mittelpunkt steht, gelten sie nicht als verletzlich (vulnerabel). Dennoch muss berücksichtigt werden, dass eine hohe Arbeitsbelastung oder emotional-psychisch anstrengende Themen auch bei professionell Pflegenden entsprechende Reaktionen auslösen können. Zudem muss immer gewährleistet sein, dass die teilnehmenden Pflegenden und ihre Aussagen nicht identifizierbar sein dürfen. Dieser Schutz kann durch einen guten Datenschutz gewährleistet werden.
  • Pflegende als Mitarbeitende an einem Forschungsprojekt sind in einer Doppelrolle. Sie erheben Daten und sind zugleich sehr gewissenhaft gegenüber den teilnehmenden und nicht-teilnehmenden Patient*nnen. In Einrichtungen, die häufig Projekte durchführen, in denen „Study Nurses“ eingesetzt werden, d.h. Pflegende als Forschungsmitarbeiter*nnen ohne Projektleitung, gibt es klare Verhaltensrichtlinien für diese Mitarbeit bei empirischen Studien. Das ist auch wichtig, damit die Doppelrolle gut ausgefüllt wird. Pflegende als Forschungsmitarbeiter*nnen sollten Pflegeforschungsmethoden kennen, ihre Tätigkeit forschungsethisch reflektieren und dabei auf die Vulnerabilität der Teilnehmer*innen achten, um reagieren und die Information weiter geben zu können. Sie sollten zudem ihre eigene Rolle und Vulnerabilität reflektieren.
  • Pflegende als Leitungen eines Forschungsprojektes planen und verantworten das jeweilige Forschungsprojekt. Dazu gehört auch die forschungsethische Reflexion des Gesamtprojektes, verbunden mit dem Einholen der anfangs erwähnten Erlaubnis zur Durchführung des geplanten Projektes. Oft – nicht immer - begegnen Pflegewissenschaftler*nnen, die Projektleitungen innehaben, den teilnehmenden Patient*nnen nicht mehr in der Rolle der Pflegenden. Damit vermischen sich die Rollen der Pflegenden und der Forscher*n nicht mehr miteinander. Dennoch ist es wichtig, die eigene Rolle und Vulnerabilität zu reflektieren.

 

Reflexion und Erlaubnis zur Durchführung des geplanten Projektes

Die Beachtung ethischer Standards stellt ein Qualitätsmerkmal ausgezeichneter Forschung dar. Ohne dezidiert auf die Historie der Forschung an und mit Menschen einzugehen, zeigen die menschenverachtenden Experimente der Nationalsozialisten und deren Aufarbeitung in den Nürnberger Ärzteprozessen deutlich, das ethische Standards, Reflexionen und Verhaltensweisen entscheidend sind. Bei Forschungen im Feld der Pflege und angrenzender Bereiche, die hauptsächlich sozialwissenschaftlich-empirisch ausgerichtet sind, kann diese Perspektive noch erweitert werden. Sie sind als menschliche Handlungen zu verstehen, da sich Datenerhebung und -auswertung auf das menschliche Verhältnis zwischen Forscher*n und Teilnehmer*n beziehen. Die Forschungstätigkeit ist somit nicht neutral oder gänzlich objektiv, sondern erzeugt eigene Effekte, die ohne sie nicht auftreten würden. So können bspw.

  • in einem Interview emotionale Momente nochmals erlebt werden, die Verletzungen oder Traumata zurückbringen, oder
  • unangemessene Verhaltensweisen seitens des/der Forscher*in während einer Beobachtung dazu führen, dass die Teilnehmer*innen ihr Verhalten anpassen und nur noch ein verzerrtes Bild dessen erhoben werden kann, was tatsächlich vonstattengeht (wenn überhaupt).

Ethisch und methodisch relevante Effekte des Forschungshandelns treten bei jeder Forschung auf, bei der Menschen mit und an anderen Menschen forschen. Ethik ist Ausdruck der Achtung vor den teilnehmenden Menschen und zeigt sich im respektvollen Umgang sowie Schutz vor möglichem Schaden. Forschungsethik stellt sich somit die Frage, welche durch die Forschung auftretenden, ethisch relevanten Einflüsse Forscher*nnen den teilnehmenden Menschen zumuten können. Sie befasst sich zudem „mit den Maßnahmen, die zum Schutz der an einer Forschung teilnehmenden Personen unternommen werden sollen, sofern dieses als notwendig erscheint.“ (Schnell 2006, 17)

Bei dieser Reflexion und Abschätzung geht es nicht um die Befolgung starrer Regeln, sondern um die Wahrnehmung der forscherischen Verantwortung und den angemessenen Einsatz der eigenen ethischen Urteilskraft. Dies gilt für alle professionell Pflegenden, die als Mitarbeiter+nnen oder Leitungen in Studien eingebunden sind.

Für Projektleitungen kommt die Auseinandersetzung mit einer Ethikkommission hinzu. Diese Gremien prüfen, ob Forscher*nnen vor Beginn einer Untersuchung hinreichende forschungsethische Überlegungen angestellt haben. Um dies umzusetzen, können Ethikkommissionen einerseits beratend tätig sein, d.h. mit Forscher*nnen über Vorschläge zur ethischen Ausrichtung des Forschungsprojektes diskutieren. Sie können andererseits über die Erlaubnis zur Durchführung eines Projektes entscheiden, indem sie die Projektbeschreibung und -reflexion akzeptieren oder ablehnen.

Ph.D., MSc, BScN Christine Dunger

Christine Dunger ist Pflegewissenschaftlerin und Gesundheits- und Krankenpflegerin. Sie arbeitet seit 2010 als freie Dozentin und seit 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Schwerpunkte ihrer Arbeit finden sich in den Bereichen Ethik, Forschungsethik, Wissenschaftstheorie und qualitative Sozialforschung. Sie ist Mitglied der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft, im Beirat der Zeitschrift pflegen:palliativ sowie Mitherausgeberin der Pflege & Gesellschaft und der Buchreihe Palliative Care und Forschung im Springer Verlag.